Was mir ein "Hundertjähriger" erzählte

Otto Wilhelm

Es war mein Lieblingsonkel von der Stunde an, da ich mich an ihn erinnern konnte. Ich entstamme einer Großfamilie und war mit Tanten und Onkeln reich gesegnet. Doch wenn ich von meinem "Onkel" sprach, dann wusste jeder in der Familie, dass nur Onkel Nikolaus gemeint sein konnte.

Stundenlang saß ich als Kind zu seinen Füßen und lauschte seinen Geschichten und "Schnurren", die er bereitwillig mir zum Besten gab, wenn ich ihn damm bat. Er hatte die "Gabe des Erzählens", sagte man in der Familie, und sein Repertoire an Geschichten war schier unerschöpflich.

Onkel Nikl, oder "Nunkel" wie wir ihn nannten, war der älteste Bruder meines Vaters. Als ich als jüngstes Kind meiner Eltern zur Welt kam, war der Onkel schon 48 Jahre alt und für mich natürlich immer ein alter Mann, vom ersten Tag meiner Erinnerung an. Der Onkel war nicht groß von Gestalt, hatte schwarzes, volles Haar, einen großen Schnurrbart und einen für die damalige Zeit ungewöhnlichen Spitzbart, der mich besonders faszinierte.

Mit meinen Eltern hatte er ein gutes Verhältnis, und so verging keine Woche, in der er nicht ein oder zweimal bei uns einkehrte. Diese Besuche waren für mich immer ein besonderes Ereignis, den der Onkel hatte stets Zeit für mich. Je nach Laune oder Inspiration erzählte er mir aus seiner Jugendzeit, von seinen Streichen mit meinem Vater, von seiner Zeit als Bergmann oder Schießmann unter Tage oder Geschichten aus seiner Militärzeit, die mich immer besonders fesselten.

Aber nicht nur erbauliche Geschichten hörte ich, auch von Nöten und Unglück erzählte mir mein Onkel Nikl. So hörte ich von dem großen Unwetter am "Jakobstag" (25. Juli) 1892, das große Schäen in der ganzen Region annchtete:

Das Unwetter brach mittags gegen 4 Uhr los. Es waren heiße Tage vorausgegangen. Auf den Feldern standen schon die ersten Kornkasten, fast trocken zum Einfahren. Der Himmel wurde plötzlich ganz gelb, kein Regen fiel, nur der Sturm brach gewaltig los, Dächer wurden abgedeckt, der Turm der Kirche wurde vom Blitz getroffen brannte. Die Eltern und andere Erwachsene, so erzählte der Onkel, knieten in der Kirche und beteten den Rosenkranz. Alles war voller Angst und Schrecken. Nur der jüngste Bruder mit seinen fünf Jahren hat das Unwetter lustig gefunden und laut gejauchzt, wenn eine Komgarbe am Fenster vorbei flog.

Von der großen Typhusepidemie im Jahre 1893 wusste der Onkel auch zu berichten. In Hülzweiler waren über 300 Menschen erkrankt, und 31 Personen sind gestorben an der tückischen Krankheit. Auch sein Bruder Johann - mein Vater - sei dem Tode nahe gewesen. Als Ministrant war er mit dem alten Pastor Friedrich Flesch oft zu den Kranken gegangen, und meine Mutter war sehr besorgt wegen der Ansteckungsgefahr. Doch er blieb wie durch ein Wunder gesund. Fast jede Woche war eine Beerdigung im Ort, und die Leute waren glücklich, als die Epidemie im Jahr darauf ein Ende nahm,

Recht spannend war es immer, wenn mein Onkel von seinem Paten erzählte, der im Jahr 1892 eine Pilgerfahrt ins Heilige Land nach Palestina unternommen hatte. Es war ein gewaltiges Unterfangen für die damalige Zeit und die abenteuerlichen Erlebnisse fesselten mich sehr.

Auch Lustiges gab mein Onkel zum Besten. Gerne hörte ich die Geschichte vom Begräbnis unseres Urahnen, der im Jahr 1886 gestorben war. Es gab in Hülzweiler eine große Beerdigung, und auch die Verwandtschaft von Saargau- aus Bedersdorf- war gekommen. Als die Großtante Marie mit einer einspännigen Kutsche an der Kirche vorfuhr, mussten drei kräftige Burschen die Gegenseite abstützen, als sie ausstieg. Das leichte Gefährt wäre sonst umgekippt, denn die Tante war sehr "beleibt". Der Onkel konnte sich noch gut an diese Szene erinnern, denn er hatte von seiner Mutter eine Ohrfeige bekommen, weil er so laut gelacht hatte bei diesem Spektakel, was sich in Anbetracht der traurigen Umstände nicht geziemte.

Auch andere Geschichten von der "dicken Tante" wurden mir vom Onkel erzählt und waren für mich eine unerschöpfliche Quelle der Freude. Die Geschichten aus der Schulzeit mit meinem Vater, sie spielten sich noch vor 1900 ab, waren ebenfalls sehr interessant. So erzählte der vom "alten Lehrer Leonardy", den die Leute in Hülzweiler sehr geschätzt hätten:

Der Lehrer wohnte mit seiner Großfamilie in einem Haus nahe der Schule. Er unterrichtete die Buben in einem großen Schulsaal. Die Kinder saßen in verschiedenen Abteilungen und wurde gleichzeitig beschäftigt. Der Lehrer war natürlich auch Küster und Organist. Wenn dann den kleinen Balgtretern einmal die Luft ausging und sie in ihrem Eifer erlahmtem dann schrie der alte Herr mit lauter Stimme: "Balch, Balch", so dass der alte Pfarrer Flesch am Altar sich manchmal umdrehte und den Kopf schüttelte.

Er muss ein schneidiger Soldat gewesen sein, denn er wurde Meldebursche bei einem höheren Offizier, war ein guter Reiter und diente freiwillig zwei Jahre länger. Seine Garnison, Weißenburg im Elsass, war um das Jahr 1910 Schauplatz eines Kaisermannövers, und als Melder seines Offiziers war mein Onkel in die unmittelbare Nähe des Kaisers gekommen. Immer wieder musste mir mein Onkel vom Kaiser erzählen, und das Bild, das meinen Onkel in der Galauniform zeigt, ist für mich noch immer ein kostbares Andenken an ihn.

Wenn ich ihn aber nach seinen Erlebnissen aus dem Weltkrieg fragte, wurde er immer sehr verschlossen und vertröstete mich auf später, wenn ich alles besser begreifen konnte. Wie mir mein Vater erzählte, war mein Onkel bei Verdun eingesetzt, und er sprach von dieser Zeit nur ungern.

Viel lieber erzählte er mir aus der "guten alten Zeit" wie er mit seinem Großvater, einem wohlhabenden Bauern, zur Mühle in Hülzweiler fuhr oder diesem bei der Feldarbeit zur Hand ging. Viele Geschichten meines Onkels stammten aus den Erzählungen seines Großvaters, der ihm noch aus der Zeit Napoleons berichten konnte, das dieser die bewegten Zeiten von 1813-1815 in guter Erinnerung hatte. Es waren Schauergeschichten von Truppendurchzügen der geschlagenen Armee aus Russland, von Wölfen, die diese Elendszüge begleitet haben. Auch von den Husaren, die durch den Kapellerwald kommend durch Hülzweiler geritten waren und auf dem Sandberg gehalten hatten, um die Festung Saarlouis zu beobachten. Nach dem Hauptheer hätten die Preußen die Stadt links liegen lassen und nur eine Schwadron Russen in den Ensdorfer Wald gelassen, um die Festung zu beobachten. Der Großvater, so mein Onkel, habe ihm schlimme Geschichten von den Russen erzählt, die die Leute im Dorf drangsalien hätten.

Mit l4 Jahren fuhr der Onkel auf der Grube Schwalbach an. Er war sehr fleißig, wurde später Partiemann und Schießmann.

Nach seiner Militärzeit heiratete er die Margarete Schmitt aus Hülzweiler, Aus der Ehe gingen vier Söhne und zwei Töchter hervor. Unter großen Opfern ermöglichte er seinen Kindern eine gute Ausbildung, und sein größter Stolz war, dass sein Sohn Josef, Priester wurde. Onkel Nikl war sehr religiös, und so war es nicht verwunderlich, dass er als politisch interessierter Mann der Zentrumspartei beitrat. Als Redner und Diskussionsteilnehmer war er auf den heimischen Versammlungen bald bekannt, doch er war nicht bereit, ein politisches Mandat anzunehmen. Selbst als man ihm bei den Kreistagswahlen einen sicheren Listenplatz anbot lehnte er ab. Auch für einen Posten im Kirchenvorstand war er nicht zu haben.

Als ich ihn später einmal nach seinen Gründen hierfür fragte, sagte er nur: "Ich war zwar ein guter Redner, manche sagte sogar ein Kanzelredner, doch zum Politiker hätte ich nicht getaugt."

Der Onkel war sehr national gesinnt, doch von den neuen Machthabern nach der Abstimmung 1938 wollte er nichts wissen, zumal er als alter "Zentrumsmann" sowieso "verdächtig" war.

Als sein Sohn im Jahre 1935 zum Priester geweiht werden sollte, war für den Ordenspriester der Weiheakt in Deutschland verboten. So mussten der Onkel und seine Frau nach Nitra in der Slowakei reisen, um der Priesterweihe seines Sohne beizuwohnen. Es war eine beschwerliche und teure Reise, so erzählte er mir, doch nichts auf der Welt hätte ihn aufhalten können, an diesem Tag dabei zu sein. Diese Reise erregte etwas Aufsehen und wurde in der ganzen Gegend zum Gesprächsstoff, sehr zum Ärger der damaligen "Größen".

Nach seiner Pensionierung im Jahr 1933 widmete sich der Onkel der Gartenarbeit und hielt sich im öffentlichen Leben sehr zurück. Aus den Gesprächen mit meinem Vater konnte ich entnehmen, dass er für unser Vaterland von den neuen Machthabem nach der Abstimmung 1935 nicht viel Gutes erwartete. Die Freizeit verbrachte er im Wald und Feld bei der Beerensuche und beim Pilzesmmeln. In jedem Jahr ersteigerte er mit meinem Vater ein Los Holz, das er mit Hingabe bearbeitete. So oft ich konnte, war ich dann dabei, und ich lernte von meinem Vater und dem Onkel mit Axt, Sage, Hebeeisen und Holzkeilen umzugehen. Immer war Zeit dabei, auch ein Gespräch zu führen. Es war eine lehrreiche Zeit.

Jeden Morgen aber begann bei dem Onkel, wie auch bei meinem Vater, der Tag mit dem Besuch der Frühmesse, ob Sommer oder Winter, bei jedem Wetter, dann erst begann das Tagwerk.

Onkel Nikel war für die damalige Zeit sehr belesen, und ich konnte mir schon Bücher und Zeitschriften ausleihen. Ich denke noch oft an den "Hausschatzkalender", eine katholische Zeitschrift, die halbjährlich erschien und von mir immer sehnsüchtig erwartet wurde.

In der Kriegszeit war der Onkel etwas wortkarger geworden. Seine Frau war gestorben, drei Söhne standen im Feld, die Zeiten waren also schwer. Die Evakuierung verbrachte er bei seinem Sohn Josef in dessen Pfarrhaus. Nach dem Krieg half der seinen Kindern und der ganzen Verwandtschaft beim Wiederaufbau ihrer Häuser. Nun nahm er auch wieder die Wanderungen durch Wald und Feld auf.

Als ich aus der Gefangenschaft‚ nach Hause kam, besuchte ich natürlich bald wieder meinen Onkel, und das alte Verhältnis war ungebrochen.

Die Jahre vergingen. Mein Vater, obwohl zwei Jahre jünger als der Onkel, war gestorben; doch er erfreute sich bester Gesundheit.

Am 31. Januar 1979 vollendete er sein 100. Lebensjahr. Das Dankamt in der Pfarrkirche von Hülzweiler zelebrierten sein Sohn und sein Enkel Manfred ( v.d. Patres SVD). Danach wurde im Pfarrsaal mit der ganzen Verwandtschaft gefeiert. Viel Prominenz war gekommen: der Ministerpresident, drei Minister, der Landrat und der Bürgermeister mit dem Ortsvorsteher. Als sich die hohen Gäste nach einer Weile verabschiedeten, sagte einer der Herren scherzhaft: "Also, Herr Wilhelm, bleiben Sie gesund, dann kommen wir im nächsten Jahr wieder".

Der Onkel schaute ihn an und sagte dann ganz gelassen: "Ihr könnt ruhig wiederkommen, wenn Ihr dann noch alle lebt". Es gab ein großes Gelächter, doch einer der Herren ist im gleichen Jahr noch verstorben, viel jünger als der Onkel.

Mit 102 Jahren ist er dann gestorben, geistig noch rüstig, Nur das Augenlicht wollte nicht mehr so richtig.

Kurz vor seinem Tod sagte er einmal zu mir: "Was soll ich den eigentlich noch hier. Mit den Lausbuben von 70-80 ist ja nichts mehr los, und ältere Leute gibt es ja kaum noch."

Mein Onkel ist für mich immer ein Ausnahmemensch gewesen, nicht nur wegen des hohen Alters, das er erreicht hat. Mit meinem Vater zusammen hat er mir viel auf den Lebensweg mitgegeben.